Homo Magi und die Schleppnetzfischer

Ein heidnischer Krimi

Kapitel 3

Gottes Murmeln

 

Die Musik fing schon an, mir auf dem Geist zu gehen. Jetzt brauchte ich etwas mit mehr Beat. Irgendwo war doch noch – nein, hier hatte ich keine CD, da musste ich auf eine alte Kassette ausweichen. Sandy Nelson mit seinen „Greatest Hits“. Und mit etwas Glück war auch auf „Land Of A Thousand Dances“ gespult. Trommeln waren genau das, was ich jetzt gebrauchen konnte.

Nach meinem Traum hatte ich große Schwierigkeiten, morgens aus dem Bett zu kommen. Ich weiß nicht genau, woran es lag. Normalerweise bin ich ein Blitzaufsteher. Wenn der Wecker klingelt, bin ich wach. Ich wälze mich aus dem Bett, setze Wasser auf, wasche und dusche mich, koche mir einen Kaffee, esse eine Kleinigkeit und bin dann in der Lage, mich den Herausforderungen des neuen Tages zu stellen.

Normalerweise war dies auch so. Wenn ich erkältet war, so richtig krank mit einer schweren Grippe, oder nach einem Arbeitstag von mehr als 18 Stunden, da hatte ich morgens Schwierigkeiten, aus der Heia hinauszufinden. An diesem Morgen fühlte ich mich, als hätte nachts jemand versucht, seine Couch auf meinem Oberkörper aufzustellen und dann die ganze Zeit im Takt mitgewippt, als Heino seine größten Erfolge im „Festival der Volksmusik“ spielte. Außerdem war mein Schlafanzug nassgeschwitzt. Es gibt verschiedene Arten von Schweiß. Meistens richtig Schweiß nur – na ja – eben schweißig. An diesen Morgen roch mein ganzer Schlafanzug so sehr nach Metall, dass ich ihn ohne großes Aufheben in die Wäschetonne warf.

Auch das Duschen mit heißem und kaltem Wasser weckte mich nicht wirklich. Es war zwar ein Versuch, um meinen Körper wieder auf die Reihe zu bekommen, aber mein Geist weigerte sich beharrlich, wieder sein Leben zurückzuerlangen.

Der Traum hatte mich tiefer getroffen, als ich zuzugeben bereit war.

Hätte ich an diesem Morgen gewusst, wie dieser Tag endet – ich wäre im Bett geblieben. Im Rückblick muss ich sagen, dass dies der Tag war, an dem ich zum ersten Mal den Eindruck erhielt, dass jemand die Zügel der Ermittlungen aus meiner Hand genommen hatte. Seit meinem nächtlichen Traum fühlte ich mich Tag für Tag mehr so, als würde Gott mit mir und meinem Schicksal Murmeln spielen. Doch ich will versuchen, die Ereignisse der Reihe nach zu beschreiben.

***

Während des Frühstücks rief ich Perle im Büro an und teilte ihr mit, dass ich heute ein wenig später kommen würde. Mir war nun wirklich nicht danach, mich zu hetzen. Perle käme sicherlich auch ohne mich klar und Trix würde sich sicherlich nicht so früh am Morgen melden. Das würde ihrem Naturell widersprechen.

Nach dem siebten oder achten Becher Kaffee fühlte ich mich in der Lage, den nächsten Schritt zu wagen. Und so verließ ich meine Wohnung und machte mich auf den Weg zur Arbeit. Das Wochenende stand vor der Tür, ich hatte einen zahlenden Kunden, heute wäre der ideale Tag, um ein wenig früher Schluss zu machen – und was fing man mit einem Freitagabend an? Unterwegs hatte ich etwas, was mir wie eine brillante Idee erschien. Ich wollte den Abend im „Stahlhof“ verbringen. Und ich würde jemanden finden, der sich dazu breitschlagen ließ, mit mir dorthin zu gehen.

Der „Stahlhof“ hatte eine besondere Geschichte. Als die Stadt im Krieg bombardiert worden war, blieben zwei Gebäude in der Innenstadt stehen. Das eine war das Schloss mit seinen dicken Sandsteinmauern, das andere Gebäude war der „Stahlhof“. Unter Kaiser Wilhelm hatte man wohl geglaubt, dass die Rückerinnung an die glorreiche Zeit der Hanse der ideale Hintergrund für den Namen einer Kneipe wäre. Und so kam der Laden zu seinem doch etwas ungewöhnlichen Namen. Zwar glaube ich nicht, dass ein einziger seiner Besucher um die Bedeutung des „Stahlhofs“ weiß – aber der Schuppen läuft auch ohne historischen Kontext. Und das ist doch eigentlich das Wichtigste.

Perle begrüßte mich ausgesprochen freundlich. Wahrscheinlich sah sie meinem zerknautschten Gesicht an, dass ich schlecht geschlafen hatte. Sekretärinnen scheinen dafür einen siebten Sinn zu entwickeln. [Stimmt! E.] An diesem Morgen hatte ich noch einiges an Papierkram zu erledigen. Es ist immer wieder überraschend, was Vater Staat an Formularen für einen bereithält, wenn man versucht, ein Geschäft zu eröffnen. Ich warte eigentlich nur darauf, dass ich irgendwann mal ein Formular für die Summen von Bestechungsgeldern ausfüllen muss. Aber ich gehe ganz sicher davon aus, dass es dafür ein Formblatt gibt.

Kurz vor meiner Mittagspause fiel mir jemand ein, der mich heute Abend begleiten konnte. Maus war einer meiner ältesten – na ja – Freunde. Wir zwei waren im Umgang miteinander keine Freunde von Gefühlsduselei. Er ließ sich von mir nicht gerne in der Öffentlichkeit umarmen, ich war kein Freund von „Hallo! Wie schön ist es Dich mal wiederzusehen!“-Auftritten, wenn sie nicht ernst gemeint waren. Wir kannten uns nun über 20 Jahre. Anfangs waren wir Brieffreunde gewesen, dann hatten wir uns ein paar Mal getroffen. Im Laufe der Jahre war man sich halt näher gekommen. Es war sicherlich keine „Freundschaft auf den ersten Blick“ gewesen. Dafür waren wir uns zu unterschiedlich, was Musik- und Literaturgeschmack, Lebensführung und Hobbies betraf. Aber von meinem damaligen Bekanntenkreis sind nicht viele Leute mehr in meinem Leben verblieben. Man lebt sich auch auseinander, was sicherlich verständlich ist. Wir zwei hatten immer Kontakt, weil wir uns ausgetauscht haben – per Brief, per Telefon, bei Treffen. Und so haben wir die 20 Jahre gebraucht, um das zu werden, was man sonst Freunde nennen würde. Nur vermieden wir zwei dieses Wort immer wieder wie der Teufel das Weihwasser. Eine Grundhaltung, die sicherlich eine Sache erleichtert – Menschen, mit denen man nicht befreundet ist, können einem nicht die Freundschaft kündigen.

Wem das Konzept nicht verständlich ist, der hat die Basis unserer Beziehung nicht verstanden. Seine Arbeitsnummer hatte ich im Kopf. Wenig später hörte ich seine Stimme an meinem Ohr.

„Maus.“

„Morsche. Ich bin’s, Acht.“

„Schön deine Stimme zu hören, alter Halunke. Wie geht’s?“

„Danke der Nachfrage. Ich sitze in meinem riesigen Büro. Draußen wartet eine dralle Blondine, die das ererbte Vermögen aufwenden will, um mich ihren Pudel suchen zu lassen. Und für heute Abend suche ich dann jemanden, der mit mir tanzen und trinken geht.“

„Cool.“ Er machte eine kleine Pause, dann kam eine neugieriges „Stahlhof?“

„Weise geraten, alter Freund.“

„Du zahlst die ersten zwei Runden?“

„Ich hoffe, dass die dralle Blondine genug dafür hergibt.“

Er lachte. „Wenn nicht, dann gibt es halt Dosenbier vom Aldi.“

„Nein, dann plündere ich doch lieber die Kaffeekasse und kaufe Bier. Holst du mich ab?“

„Gegen 9?“

„Gerne. Klingele, ich komme dann runter.“

Wir hatten uns in ein paar Atemzügen geeinigt. Der Abend versprach ganz nett zu werden. Immerhin hatte ich jetzt eine Perspektive, um den ansonsten drögen und von meiner Müdigkeit überschatteten Tag hinter mich zu bringen.

Perle und ich verbrachten den restlichen Tag damit, noch ein paar weitere Fakten über den Schleppnetzfischer – wie ich ihn jetzt in Gedanken nannte – und unseren Auftraggeber herauszufinden. Doch was wir jetzt noch fanden, waren nur winzige Farbkleckser, die das Bild, das wir uns gemacht hatten, nicht mehr veränderten. Eigentlich hatten wir das, was wir brauchten, schon zusammen. Jetzt musste ich nur noch die Ruhe finden um zu versuchen, das Bild auf mich wirken zu lassen und herauszufinden, wie es weitergehen sollte.

Doch erst lockte der Feierabend und der Beginn des Wochenendes samt eines Freitagabends mit Maus.

***

 Der „Stahlhof“ hatte einen eigenen Flair. Von draußen sah er ein wenig aus wie ein gestrandetes Stück Biedermeier in einer hochmodernen Stadt. Das Schloss war nur eine Ecke entfernt und gemeinsam bildeten die beiden ein Ensemble der Vorkriegsstadt gegen die Neubauten der 50er und 60er Jahre. Der „Stahlhof“ konnte den Kampf gegen die moderne Architektur nicht gewinnen, aber er gab sich alle Mühe, wenigstens in Würde zu verlieren. Das gelang ihm auch. Kein architektonisches K.O., eher ein Sieg nach Punkten.

Innen war er eine Mischung aus ganz verschiedenen Angeboten. Im Erdgeschoss gab es eine rustikale Kneipe, in der man Menschen sehen konnte, die bei einem Wettbewerb zum Gesichtsältesten alle eine Chance gehabt hatten. Existenzen, die es hier jeden Abend anspülte, wie Muscheln am Strand. Und immer, wenn man glaubte, man könnte durch nichts mehr überrascht werden, setzte sich eine dieser Gestalten ans Klavier und begann, einen tieftraurigen Blues zu spielen. Und dann ging ein anderer an die Gitarre und noch jemand griff sich das Saxophon. Wenn der Abend gut lief, dann musste man an solchen Abenden von der Bedienung aus der Tür geschoben werden, damit der Laden geschlossen werden konnte. Denn wenn dieses menschliche Strandgut anfing, den Blues zu spielen, dann hatte ich immer nur eine einzige Chance: Alkohol.

Ich weiß selbst, dass Alkohol keine Lösung ist. Aber in einer solchen Kneipe sitzen, die Musik hören und dazu ein frischgezapftes Pils – sehr angenehm. Ich schweife ab. Im Erdgeschoss gibt es noch eine langgezogene Tanzhalle, in der wir uns heute Abend den meisten Teil der Zeit rumtreiben würden. Im ersten Stock dann eine Bühne für Live-Bands, ein Raum mit Flippern, ein Raum mit einem Fernseher, ein kleines Kino mit einer erstaunlich schlechten Auswahl von Filmen, eine Bar sowie ein Raum mit zwei Billard-Tischen.

Früher gab es noch einen weiteren Stock. Ich bin mir leider nicht mehr ganz sicher, ob ich das halluziniere. Die Tür nach oben gibt es noch in einem der Gänge, aber niemand, den ich frage, kann sich daran erinnern, jemals dort oben gewesen zu sein. In meiner Erinnerung sind im zweiten Obergeschoss ein kleiner Raum mit einer Sitzecke aus weißem Leder und ein etwas größerer Raum mit einem begehbaren Schachbrett auf dem Boden. Dazu dann Schachfiguren, wie sie normalerweise nur in Parks herumstehen. Aus Plastik, bis kniehoch, und genauso schwer, dass man sie gerade noch mit einer Hand von einem Feld zum anderen bewegen konnte. Das Pferd zu bewegen war in diesen Spielen immer sehr schwierig; besonders, wenn man versuchte, es galant mit einer Hand über eine Reihe anderer Figuren hinweg zu bewegen.

Nun, dieser Raum scheint verschollen. Egal, in welcher Dimensionsfalte ich damals gelandet bin – ich würde das Pärchen, das damals auf der weißen Couch gesessen hat, schon gerne mal wiedertreffen. Einfach nur, um sie zu fragen, vor was sie sich in diese Dimension gerettet haben. Und ob sie mit meinem überraschenden Besuch arg erschreckt habe.

Maus und ich holten uns als erstes eine Flasche Bier im ersten Stock. Ich kannte den Typen hinter der Theke. Mein Alter, mein Schuljahrgang – ich selbständiger Magier, er Ausschank in einer heruntergekommenen Kneipe. Beides Existenzen, die sicherlich nicht die Erwartungen ihrer Umwelt erfüllt hatten ... Auf Klassentreffen waren dies die Lebensläufe, die nicht in die übliche „Mein Haus Meine Frau Mein Auto“-Reihenfolge fielen.

Mit dem Bier in der Hand gingen wir dann runter auf die Tanzfläche. Nun, eigentlich gingen wir nicht auf die Tanzfläche. Dazu war es jetzt noch viel zu früh. Die Lichter waren schon an und tanzten auf den Spiegelkacheln der Wände und der Sichtblenden. Aber die meisten Leute hingen noch mehr oder weniger offensichtlich gelangweilt in den Sitzecken ab, knutschten an ihrer Umwelt uninteressiert in irgendwelchen Nischen herum oder beschäftigten sich damit, sich über das Geräusch der Musik hinweg zu unterhalten.

Ich ließ meine Blicke kreisen, genauso wie auch Maus. Heute Abend war ich nicht unterwegs, um eine Frau aufzureißen. Dazu hatte ich nun weiß Gott gerade keine Lust. Bei Maus war ich mir nie sicher, ob seine obskure Libido ihn wieder einmal herumriss. Manchmal konnte er eine Frau anmachen und der Funken sprang überhaupt nicht herüber. Da hätte man ihn nackt der Dame auf den Bauch binden können und es würde nix passieren. Manchmal ging aber von ihm eine Art erotisches Elmsfeuer aus, das in der Lage war, eine Frau dazu zu bewegen, nur noch daran zu denken, seine Kinder austragen zu wollen.

Ich hatte es schon erlebt, dass er mit zwei südländischen Schönheiten abgezogen war, nachdem er nicht mehr getan hatte, als mit ihnen zehn oder zwölf Sätze auf Englisch zu reden. Er behauptete zwar nachher jahrelang, sie seien lesbisch gewesen und hätten ihn nur zu einer Drogenparty in ihre Wohngemeinschaft mitgenommen. Aber selbst wenn die Geschichte sich so zugetragen hat, wie er das schildert – die Gesichter der anderen Typen in der Kneipe waren es wert, dass ich dabeigewesen war. Obwohl ich das mit der Drogenparty schon gerne selbst überprüft hätte ... und ich hätte gerne auch überprüft, ob die Damen wirklich lesbisch waren. Aber damals war ich noch jünger, heute würde ich das nicht mehr machen. Vielleicht.

Weiter ließ ich meine Blicke schweifen. Immer wieder nahm ich zwischendurch Schlucke vom Bier. Ich ging auch die erste neue Lage holen, dann war Maus dran. Beim dritten Pils war der Raum dann so voll, dass sich die ersten Tanzenden auf die Tanzfläche trauten. Die ersten Tanzenden – vorher schon waren Menschen auf die Tanzfläche hinausgetreten und hatten versucht, ihren Körper zur Musik in rhythmische Bewegungen zu bringen. Nicht immer war dieses Verhalten von Erfolg gekrönt. Manche Menschen können sich nicht so lange zurückhalten, bis sie zur richtigen Zeit die richtigen Bewegungen am richtigen Platz mache. Sie scheren aus der Masse der Zuschauer aus und machen einige halbherzige Tanzschritte. Entweder geht die Menge mit und andere betreten die Tanzfläche. Oder das Eis bricht nicht und wenn man Glück hat, bringt dann derjenige auf der Tanzfläche das Lied noch hinter sich, ohne peinlich nach einem halben Song von der Tanzfläche zu taumeln. Wir alle warteten darauf, dass das Eis bricht. Jemand musste aus den Reihen treten und zum richtigen Stück die richtigen Bewegungen machen. Dann würden die anderen folgen.

Das war keine obskure Theorie. Ich hatte mir diese Ansicht durch das jahrelange Beobachten von tanzenden Menschen zu eigen gemacht. In 99 von 100 Fällen funktionierte dieses Bild auch. Es ist müßig, sich darüber zu unterhalten, ob ich dieses Bild der Masse aufdränge oder dies Bild von mir alleine stammt. Wichtig ist doch nur, dass das Bild für die von mir beschriebenen Belange funktioniert.

Die Tanzerei hatte begonnen. Maus und ich nippten nachdenklich an unseren Bierchen, ab und an gab einer von uns weise Kommentare zu Tanzstil und Körperbau der Tanzenden ab. Einmal machten wir uns über einen jungen Mann lustig, der mit Halbglatze, fettigen Haaren und leichtem Übergewicht versuchte, in Balettschläppchen und engem Netzhemd seinen Körper so wirken zu lassen, als wäre er noch Anfang 20 und biegbar wie eine junge Gerte. Maus war immer wieder darin gut, für solche Effekte treffende und vernichtende Kommentare zu geben. Hier zog er den wunderschönen Vergleich, dass jemand, der den ganzen Tag lang Birkenstock anhat, natürlich abends in Balettschläppchen tanzt. Ich konnte mir das – trotz meiner eigenen beruflichen Vorbelastung – gut vorstellen. Ein Sozialarbeiter in einer beliebigen sozialen Einrichtung, der sich den ganzen Tag lang den Seelenschrott der Menschheit anhört, leise vor sich hin leidet und nachts zum Diskokönig wird. „Born to be alive!“

Und dann gab es natürlich die jungen Mädchen, die am Rand standen und aussahen, als könnten sie sich nicht ganz entscheiden, ob sie an einem „Vampire“-Rollenspiel oder einer Gothik-Party teilnehmen wollten. Rüschenhemdchen, viel Metall um den Hals, hell geschminkter Teint, viel Metall im Ohr und schwarzer Rock oder – wenn es sich um Frauen handelte, die dem allgemeinen Massentrend der Szene zu widerstehen vermochten – eine schwarze Hose. Maus bemerkte sehr richtig, dass wir – im Besitz einer Zeitmaschine – diese nutzen und zehn Jahre in die Vergangenheit reisen sollten. Dort könnten wir dann ein Tattoo-Studio aufmachen. Nach dem zu urteilen, was ich an diesem Abend gesehen hatte, musste ich ihm recht geben. Wir schauten uns also eine Weile lang Tattoos an, die unter Hemden und an Hosenbünden hervorlugten. Danach diskutierten wir eine Weile lang, ob es sich dabei nur um halbe Tattoos („Fakes“ nannte Maus sie liebevoll) handelte, die genauso groß waren, dass man sie exakt eine Ecke weit unter der Kleidung hervorlugen sah. Gab es wirklich einen tätowierten Körper zu dem tätowierten Arm samt Krallenhand? Hatte das Motorrad auch eine Hinterachse, oder bestand es für immer nur aus Lenker und Reifen? Diese ganzen Tätowierungen waren eventuell nur Fragmente, zu sehen durch den dünnen Stoff oder zu erkennen unter der Kleidung. Mehr nicht.

Wir waren gerade dabei, diese lebenswichtigen Fragen zu diskutieren, als eine Frau die Tanzfläche betrat. Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, wann sie die Tanzfläche betrat. Wir schauten hin und sie war noch nicht da und wir schauten wieder hin und sie war da. Ich weiß, dass sich Tänzerinnen selten auf Tanzflächen materialisieren. Aber in diesem Fall ist es mir leider unmöglich, einen Handlungsablauf zu rekonstruieren. In einem Blinzeln, meinen Lidschlag nutzend tauchte sie auf. Und als sie aufgetaucht war, da war ihre Präsenz so deutlich zu spüren, dass es wenig Möglichkeiten gab, sie zu übersehen – zumindest nicht für einen Mann zwischen 15 und 75, der noch nicht völlig erblindet war.

Was mir zu erst auffiel, das war ihre Art, sich zu bewegen. Es wäre mir nach einigen Augenblicken noch schwer gefallen, Aussagen über ihre Kleidung, ihre Haarfarbe oder auch nur ihre Hautfarbe zu machen. Die bunten Lichter über der Bühne blitzten im Takt der Musik immer wieder auf, weißes Licht brach sich an den verspiegelten Wänden und an der verspiegelten Decke, der Tisch des Disk Jockeys, die vielen Tische zum dagegen lehnen – sie alle trugen ihren Teil dazu bei, die Lichtverhältnisse im Raum so verwirrend wie möglich zu gestalten. Aber es war auch ein wenig so, als würde sich das Licht um sie herum oder mit ihren Schwingungen bewegen.

Sie tanzte und wie sie tanzte. So müssen Göttinnen getanzt haben als sie im ersten Morgenlicht der Menschheit vom Himmel herniederstiegen, um sich den Menschen zu zeigen. So muss der junge Pan getanzt haben, wenn er wieder einmal dabei war, eine Menschenfrau zu verführen. Die Tempeltänzerinnen der frühen Hochkulturen, deren biegsame Körper noch manchmal auf alten Reliefs zu erahnen sind – auch sie müssen so getanzt haben.

Sie tanzte, als wäre sie ganz alleine. Als würde dieser Tanz nur zwei Wesen etwas angehen – sie und Gott. Und wir alle, die wir sie anstarrten, waren zu Statisten degradiert. Wir durften die selbe Luft atmen wie sie, wir durften im selben Raum-Zeit-Kontinuum existieren, aber eine echte Daseinsberechtigung hatten wir nicht. Zuschauer zu sein wurde in diesen Sekunden zu einer echten Beschäftigung, die einen ausfüllen konnte. Ich riss nur die Augen auf und starrte. Dankbar durfte ich sein, dass meine Augäpfel nicht vertrocknet sind während ich ihr zuschaute.

Leider konnte ich später nicht mehr sagen, welches Musikstück es war, zu dem sie sich bewegte. Es hätte Michael Jackson sein können. Zumindest läuft mir bei „Thriller“ seitdem ein kalter Schauer den Rücken herunter. Aber das muss nicht heißen, dass dieses Stück auch wirklich in diesem Moment gelaufen ist. Maus habe ich viel später dazu befragt. Er konnte mir keinen Millimeter weiterhelfen. Auch seine Erinnerung spricht von Musik, von einem wunderschönen Körper, von Tanzschritten, schmalen Fesseln, einer vollendeten Figur. Aber mehr konnte er mir nicht sagen.

Es ist immer beruhigend, wenn man nicht der einzige ist, der von Gott geschlagen wird. Das macht es einfacher, das Schicksal zu ertragen.

Noch einmal: Ich habe keine Ahnung, wie lange wir zwei da wie völlige Trottel herumgestanden haben. Es können Sekunden gewesen sein oder auch Tage. Wir haben unsere Augen aufgerissen und gestarrt. Wir haben so geschaut, wie man es normalerweise nicht tut. Schon kleine Kinder bekommen beigebracht, dass es nicht höflich ist, wenn man so jemanden anschaut. Aber wir haben es getan. Maus und ich hatten glücklicherweise eine gewisse Vorbildung, was Etikette und Verhalten betrifft. Deswegen lief uns wohl kein Speichel aus den Mundwinkeln. Und dankenswerterweise hatten wir nachher auch keine Flecken auf der Hose. Aber das war auch schon alles.

Irgendwann war der Bann gebrochen. Vielleicht war der Elfenstaub in der Luft aufgebraucht oder das Dimensionstor hatte sich geschlossen. Ich weiß es nicht, ich brauche es auch nicht wissen. Es war vorbei und es war gut so.

Es war ein Lidschlag lang Pause, das Universum blinzelte unauffällig, dann bewegten sich die ersten Menschen auf die Tanzfläche. Sie ging zur Bar, um sich etwas zu trinken zu bestellen. Maus und ich schauten uns beide an. Wir wussten, dass wir jetzt handeln mussten, wenn wir unserem uns gegenseitig immer wieder bestätigten Ruf als Könige der Tanzkultur gerecht werden wollten.

„Calling All Destroyers?“ meinte Maus nur lapidar in meine Richtung.

Ich nickte. „Drei Bier?“

Dieses Mal nickte er und verzog sich zur Bar. Ich schlenderte unauffällig zum Disk Jockey hinüber. Man muss bei so etwas immer eine Weile lang herumlungern, bis der Blick des obersten Plattenauflegers auf einen fiel. In der DDR war es früher üblich, dass es in Discos eine 60/40-Trennung gab. 60 % der Musik mussten Ostmusik sein, dafür durften dann 40 % Westmusik sein. Maus vertrat die Ansicht, dass es eine ähnliche geheime Absprache auch im Westen gab. 60 % der Musik mussten Scheiße sein, damit 40 % Tanzmusik gespielt werden können. Meistens schloss ich mich dieser Ansicht an. Also: Der Blick des Herren über die Musikauswahl fiel auf mich. Ich hatte Glück, denn ich kannte ihn zumindest vom sehen. Im Moment hätte ich auch unter Folter nicht sagen können, woher wir uns kannten. Aber so lange er nicht wusste, dass ich nicht wusste, woher wir uns kannten ging ich fest davon aus, dass er es auch nicht wusste, wo wir uns getroffen hatten. Und so kam ich um die Folter herum.

„Hey, ich hab einen Musikwunsch.“ Eine tolle Eröffnung: sachlich, präzise und alle Fakten einbindend. Scheinbar war doch ein Poet an mir verlorengegangen. Seinerseits wurde nicht mehr vergönnt als ein freundlicher Grunz. Inzwischen war Maus mit den Bieren angekommen. Ich versucht es erneut. „Bier?“

Er nickte freundlich. Ich reichte das Bier über den Tisch. Er prostete uns beiden zu und trank einen tiefen Schluck. „Wasdarfsnsein?“ war das nächste, was ich verstand.

Maus hatte für solche Aufgaben die tragfähigere Stimme. „T. Rex!“

„Ist out.“

„Quatsch mit Soße. Kommt wieder, wenn auch gesampled.“

Maus war in so Situationen manchmal unschätzbar gut zu gebrauchen. Während er dem DJ erklärte, dass ausgerechnet T. Rex’ „Calling All Destroyers“ in den nächsten Wochen in einer obskuren Hip-Hop-House-Trance-Remix-Version die Charts stürmen würde, versuchte ich, sie immer wieder in der Menge zu sehen. Erfolglos. Irgendwann hatte Maus seinen Zauber gewirkt und der Herr der Platten konnte nicht anders, als als übernächstes Stück unseren Wunschtitel einzuplanen. Wir waren gerettet.

Maus hatte einmal behauptet, dass der Bogen der Aufnahmefähigkeit in Discos unter 15 Minuten liegt. Wenn du auf ein Ereignis nicht innerhalb einer Viertelstunde reagiert hast, dann ist die Reaktionszeit vorbei. Ähnliches gilt natürlich auch für eigene Aktionen – tut man etwas und erhält man nicht innerhalb von 15 Minuten eine Reaktion, dann war es ein Schuss in den Ofen. Maus hatte das mal sehr wissenschaftlich erklärt, aber ich glaube einfach, dass man in 15 Minuten in Ruhe pinkeln gehen und eine rauchen kann. Wenn man dann noch genügend motiviert ist und keinen Verzögerungsgrund mehr hat, dann tut man, was man tun möchte – oder lässt es für immer bleiben.

Ein Stück war zu Ende. Maus und ich positionierten uns am Rande der Tanzfläche. Wir mussten jetzt nur noch abwarten, um dann unseren Gegenschlag zu starten. Beide wussten wir nicht, wo sie war – aber wir gingen davon aus, dass sie noch auf die Tanzfläche schauen würde, um herauszufinden, was nach ihr kam. Endlich war das quälend lange Lied vorbei und Bolan begann seinen Gesang. Die anderer Tänzer waren verwirrt. Sie hatten wohl nicht erwartet, dass nach dem lauten Beat des neuen Millenniums ein Stück kommen würde, das sie in die Zeit der Langhaarigen zurück versetzen würde. Diese Verwirrung nutzten Maus und ich, um mit zwei langen Schritten auf der Mitte der Tanzfläche einzutreffen.

Auch in solchen Momenten war Maus göttlich gut. Seine Arme wie Dreschflegel bewegend schuf er in nur acht Tanzschritten genug Platz für uns beide, um unsere Show abzuziehen. Junge Männer scheinen oft darunter zu leiden, dass sie in der Pubertät ihren Körper nicht trauen. Während Frauen sich frisieren und schminken, beschäftigen Männer sich entweder mit Sport oder mit Tanz. Maus und ich gehörten zu der Tanz-Fraktion. Irgendwann hatten wir auf irgendeiner Fete festgestellt, dass wir gut zusammen tanzen konnten. Nein, ich will nicht missverstanden werden – wir halten uns nicht im Arm und wir tanzen auch keinen Square Dance, wir reagierten einfach irrsinnig gut auf die Figuren des jeweils anderen. So war es auch hier. Wir zwei zogen eine irre Show ab. „Calling All Destroyers“ ist ein geiles Stück, wir zwei waren hochmotiviert, hatten ein paar Bierchen im Kopf und wenig Skrupel, uns hier entweder zum Tanzbodenkönig oder zum Obertrottel küren zu lassen.

Doch unsere 15-Minuten-Theorie wurde von Erfolg gekrönt. Bei den letzten Takten von „Calling All Destroyers“ betrat sie die Bühne und begann mit uns beiden im Takt zu tanzen. Ich blickte Maus an – immerhin war das Lied sein Vorschlag. Aber er schien nicht auf seinem musikalisches Erstgeburtsrecht zu bestehen und war bereit, es hier und jetzt mit mir auszutanzen. Denn mit ihr tanzen konnte nur einer von uns beiden, auf der selben Tanzfläche konnten wir beide mithalten, doch nicht mit ihr – nur neben ihr. Mit ihr, das konnte nur einer von uns beiden sein.

Es war ein Marathon. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten. Bei „Sisters of Mercy“ machte er Punkte, bei Philipp Boa lag ich gut im Rennen. Es waren Stücke dazwischen, da tanzte keiner von uns dreien. Es gab andere Lieder, da waren die Paarung immer sehr unterschiedlich – er mit ihr, ich mit ihr, ich mit ihm. Aber wir tanzten und tanzten und tanzten. Und über Stunden hinweg zeichnete sich kein Sieger ab. So muss man sich früher gefühlt haben, wenn man in einem Elfenring um die Gunst der Prinzessin tanzte. Manchmal waren andere Menschen auf der Tanzfläche, manchmal waren wir alleine. Wir haben nicht viel gesprochen, wir haben getanzt.

Für jemanden, der versucht, Kriminalfälle durch Beobachtung zu klären, sind meine Kommentare zu diesem Abend ziemlich lückenhaft. Es tut mir leid, wenn ich nicht in der Lage bin zu schildern, was genau passiert ist. Ich kann es nicht – vielleicht, weil ich zuviel getrunken hatte, vielleicht weil wirklich meine Hormone die Macht über meinen Körper übernommen haben. Die Schilderung ist lückenhaft, obwohl der Abend eigentlich keine Lücken hatte, die ich nicht durch Tanzen gefüllt hätte.

Auf einmal tat es einen Schlag und Maus hatte aufgegeben. Vielleicht hatte er erkannt, dass er bei ihr nicht landen würde. Vielleicht hatte sie ihm signalisiert, dass sie mich favorisieren würde oder vielleicht hatte er auch einfach keine Lust mehr oder Muskelkater. Ich weiß es nicht, und weil er mein Freund ist werde ich ihn auch nie fragen. Sie war mein, niemand anders hätte das Recht, mit ihr zu tanzen. Und wir haben getanzt. Erst umeinander herum, dann miteinander. Erst haben wir uns nicht berührt, dann sind unsere Fingerspitzen aneinander gestoßen und Impulse wie elektrische Schläge zuckten durch meinen Körper. Ich roch ihren Geruch, ich sah ihre Haare sich beim Tanzen bewegen, sah das Spiel ihrer Muskeln, das Heben und Senken ihrer Brüste. Meine Emotionen waren mit einem Laster überfahren worden und ich war verliebt.

An diesem Abend ist nicht mehr viel passiert. Als die Lichter angingen und die Gäste langsam den Laden verließen, habe ich sie bis zum Ausgang begleitet. Draußen lehnte sie sich ruhig gegen die Betonwand, drehte sich eine Kippe und steckte sie in aller Ruhe an. Ich stand nur da und schaute sie an. Dann zog sie einen Zettel aus der Tasche, schrieb eine Telefonnummer darauf, drückte mir den Zettel in die Hand, zog meinen Kopf zu sich herunter und gab mir einen irren Kuss auf den Mund. Als letztes flüsterte sie noch ein „Ruf mich morgen an!“ in mein Ohr und ging.

Ich habe den Zettel auf dem Heimweg nicht angeschaut. Von mir aus hätte da auch die Telefonauskunft von Hanoi oder die private Telefonnummer des Papstes draufstehen können. Ich war im Himmel. Und während ich nach Hause ging – Maus war in die Nacht hinein verschwunden – hörte ich leise Stimmen, Gottes Murmeln.

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