Homo Magi und die Schleppnetzfischer

Ein heidnischer Krimi

Kapitel 8

Zurück auf Feld eins

 

Procol Harum hört sich meistens an, als wären langmähnige Hippies damit beschäftigt auf blumengeschmückten Gitarren herumzuschrammeln. Wahrscheinlich ist es auch so. Auf jeden Fall ist „Conquistador“ wundervoll melancholisch, irre schön zu hören und eine gelungene Reminiszenz an ein untergegangenes Zeitalter.

So fühlte ich mich auch.

Es war Montag. Tag 6 dieses Falles, wenn ich meiner eigenen Zählung folgen wollte. Morgens kam ich verspätet ins Büro – gestern Abend hatte ich die beiden „jungen Leute“ noch zu einigen Alkoholika eingeladen. „Junge Leute“ hatte sie der Barkeeper genannt. Oder doch der Wirt? Schwierig. Trix hatte wohl mehr über „Leute“ gelacht als über den Vorwurf der Jugend. Als sie dann endlich genug getrunken hatten, habe ich mich selbst noch ein wenig weitergeschleppt. Ich wusste nicht mehr, wie ich in meine Wohnung oder gar in mein Bett gekommen bin. Ich wusste auch nicht mehr, was das letzte Getränk gewesen war, das ich mir hinter die Binde gegossen hatte. Oder das vorletzte. Oder das vorvorletzte.

Ich war nachts einige Male aufgewacht, war auf die Toilette getorkelt und hatte mich erst in weitem Strahl übergeben, danach nur noch trocken gewürgt, bis mein Magen alles an giftigem Alkohol von sich gegeben hatte, was er zu bieten hatte. Dazu hatte er noch Galle und einigen nichtalkoholischen Mageninhalt abgegeben, auf den zu verzichten mir aber relativ einfach gefallen war. Morgens war ich zu spät aufgewacht. Aber ich ging fest davon aus, dass Perle schon auf der Arbeit war [Stimmt! E.], von daher brauchte ich mir keine Hektik zu machen.

Ich schnitt mich beim Rasieren. Ich ließ mein Marmeladenbrot fallen. Ich fand keinen passenden sauberen Pullover, nachdem ich den ersten mit Marmelade vollgeschmiert hatte. Ich bekam meine Schnürsenkel nicht dauerhaft zu. Aus meinen Poren schien ein unangenehmer Alkoholmief zu ziehen – doch trotzdem machte ich mich auf den Weg ins Büro.

Die morgendliche, kalte Luft traf mich wie ein schmiedeeiserner Hammer mitten ins Gesicht. So richtig klar war mein Gehirn immer noch nicht, aber es musste reichen.

Perle hatte mir einen großen Kaffee gemacht. Sie hörte zu, während ich von dem Debakel der letzten Tage erzählte – von der Vorbereitung und der Durchführung des Gottesdienstes. Von meinen beiden „Kleinen“, die ich mitgenommen hatte. Von unserem gemeinsamen Alkoholabsturz. Begeistert war sie keinesfalls, aber sie hörte mir zu. Und ich hatte nicht wirklich vor gehabt, die beiden Kleinen in Gefahr zu bringen – es war einfach so passiert, ohne dass ich es hatte verhindern können. Sie verstand mich. Ich machte mir große Vorwürfe, aber sie hörte mir zu. Mir ging es so schlecht, wie es mir schon lange nicht mehr schlecht gegangen war. Aber nach einigen Stunden Reden, nach ein oder zwei Kannen Kaffee und nach viel gutem Zureden war ich wieder halbwegs ein Mensch.

Aber ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich bat Perle, sich um das Telefon zu kümmern und eventuelle Besucher abzuwimmeln, da ich in einem wichtigen Gespräch sei. Dann zog ich mich in mein Büro zurück. „Mirakel-, Mythen- und Medienberatung“ stand auf meiner Visitenkarte. Jetzt war dringend die Zeit für ein Mirakel gekommen. Es musste nicht das Mirakel des Hauses Brandenburg sein, aber ...

Die Tür war fest zu. Ich entzündete zwei Räucherkerzen im großen Räucherkerzenhalter aus Speckstein auf meinem Schreibtisch, dann zog ich die Jalousien herunter, legte eine CD mit Procol Harum in den Mini-Player (liebevoll von meinen Schülern früher „Brüllwürfel“ genannt) und begann, mir in aller Ruhe die Schuhe aufzuschnüren. Dann warf ich meine nun schuhlosen Füße auf den Schreibtisch, legte ich mich fläzend in meinen Bürostuhl und begann meditativ Stück für Stück eine ganze Packung „After Eight“ zu verzehren.

Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst.

Der Erleuchtung ist es egal.

Der Erleuchtung.

Perle stand in der Tür. Ich hatte sie nicht hereinkommen hören, war also wohl bei Musik und gutem Geruch eingeschlafen. „Verzeihung, aber da ist ein Telefongespräch ...“

„Ich wollte doch nicht gestört werden.“

„Maus!“ war das Wort, das ihre Lippen bildeten, während sie mit der rechten Hand die Sprechmuschel zuhielt.

Ich sprang aus meinem Stuhl, hoppelte auf Socken zu ihr und übernahm das Handteil des Telefons. „Dich sendet der Himmel!“ nuschelte ich in die Muschel.

„Mir fiel gerade ein, dass wir doch ...“

„Erleuchteter!“

„Hör auf mit dem Quatsch. Was ist los?“

Auf Socken, das Handteil in der rechten Hand haltend, schleppte ich mich in mein Büro und verschloss gekonnt mit besocktem Fuß die Tür. „Du rettest mich gerade aus einer tief-depressiv manischen Phase. Egal, was du jetzt sagst, es wird erleuchtet sein und mich im Gegenzuge auch erleuchten.“

„So schlimm?“ fragte er mich.

„Schlimmer.“

„Hmmm. Rock & Roll?“

„Wie bitte?“

„Heute Abend ist Oldie-Nacht im »Stahlhof«. Wie jeden Montag, wie Du vielleicht in deinen müden Gehirnwindungen noch gespeichert hast.“

„Habe ich. Aber die spielen doch – Zitat du – nur »Hippie-Kacke und Rocker-Mucke« – Zitat Ende. Von daher ging ich davon aus, dass ...“

„Ich hatte eben das unstillbare und unerklärliche Bedürfnis, mit dir heute Abend tanzen zu gehen. Und solchen Inspirationen soll man nachgeben, wie ich von einem mir namentlich bekannten Mirakelfachmann gelernt habe.“

Das war zwar nicht das Mirakel des Hauses Brandenburg, aber immerhin eine Ablenkung, welche mir das Schicksal einem Stoffball einer Maus gleich vor die Füße warf. Ich war sehr dankbar und biss zu.

 ***

 Einige Stunden konnte ich nachmittags noch schlafen, nachdem ich zum frühest vertretbaren Zeitpunkt die Firma verlassen und Perle in den wohlverdienten Feierabend geschickt hatte. Dann hatte ich mich erneut gereinigt. Ich erinnerte mich daran, dass ich dieses Ritual vor Tagen schon einmal durchgeführt hatte. Wieder war ich daran, meinen Körper in eine begehbare Wohnung zu verwandeln, in der mein Gehirn Chancen dafür hatte, dass die von ihm ausgesandten Befehle auch umgesetzt würden.

Auf dem Weg zum „Stahlhof“ dachte ich über das nach, was mir in den letzten sechs Tagen passiert war. Gott hatte sechs Tage gebraucht, um die Welt zu schaffen und ruhte am siebten. Ich brauchte sechs Tage, um eine nette Geschäftsidee samt meinem ersten Kunden total gegen die Wand zu fahren und konnte nicht einmal davon ausgehen, dass ich morgen würde ruhen können. Die Welt war Scheiße.

Irgendwann wäre mein Erspartes dahin, ich müsste das Geschäft schließen, Perle entlassen und mich wohl wieder um eine reguläre bezahlte Arbeit kümmern – oder mich damit abfinden, bis zum Eintritt des Rentenalters dahin zu vegetieren und darauf zu warten, dass der Tod mich dann letztendlich in seine starken Arme nimmt.

Dann begann es auch noch, leise und kalt zu regnen. Nicht einmal pissiger Schnee im Februar, sondern nur kalter, ekliger Regen. Es konnte jetzt nur noch sein, dass die Oldie-Nacht mich mit „Boney M.“ empfangen würde. Das wäre ein klares Indiz für das nahe bevorstehende Ende der Welt gewesen.

Ich hatte Glück. Die Welt auch. Vor dem „Stahlhof“ war zwar die übliche Zahl von Eckenstehern zu sehen – „Motten“ nannte Maus sie liebevoll, weil das Licht sie anzog –, aber von drinnen tönte kein „Boney M.“ durch die Scheiben. Da hätte ich wohl jeden der zehn oder zwölf Hits, welche die Gruppe früher hatte, nur anhand der Bässe und Frank Farians Geträller erkannt. Diese Bässe klangen nicht danach und Farian war auch nicht zu hören. Ich glaube fest daran, dass wenn jetzt „Rasputin“ ertönt wäre, ich mir an einer aufgeschlagenen Bierflasche die Pulsadern aufgeschnitten hätte.

Maus hatte ich ein wenig später gefunden. Er stand in der dritten Reihe der Zuschauer, die um die Tanzfläche herumlungerten. Als er mich sah, wunk er kurz zu mir herüber und ging an die Biertheke, um von dort mit zwei geöffneten Pilsflaschen wieder zu kommen. Er sagte kein Wort, bis wir den ersten Satz Biere geleert hatten. Dann griff er nach meiner Flasche, meinte „gleich“ und verschwand mit den beiden geleerten Flaschen wieder zur Biertheke. Wenig später stand er erneut vor mir, wiederum mit zwei geöffneten Bierflaschen in der Hand. Deja vu.

Bis jetzt war „Gleich“ das einzige Wort gewesen, das er mit mir gewechselt hatte. Nicht sehr beeindruckend an Kommunikation, wie ich leider zugeben musste. Aber so war er. Er hatte wohl irgendwie gemerkt, dass ich heute Abend nicht alleine sein wollte. Vielleicht hatte er auch gemerkt, dass ich jemanden zum sprechen brauchen würde. Aber so lange ich mich nicht äußern würde, würde er sich auch nicht äußern – von wertvollen Hinweisen wie „Gleich“ vielleicht einmal abgesehen. Und er würde nicht den Fehler machen, mir die Kommentare Stück für Stück aus der Nase zu ziehen.

Er war ein Freund.

 

***

 

Viele Stunden, viele Oldies und viele Biere später fanden wir uns an der fast leeren Bar wieder. Dann konnte ich ihm endlich alles erzählen. Erzählte ihm, wie meine ganzen Planungen den Bach runter gegangen waren. Wie Scheiße mein Geschäft lief. Wie flau meine Zukunftshoffnungen waren. Dass ich eine ehemalige Schülerin von mir in Gefahr gebracht hatte. Dass ich aus der Kirche der Schleppnetzfischer vertrieben worden war. Dass meine Tarnung wohl jetzt und für alle Zeit in diesen Kreisen völlig dahin war. Wie das tolle Mädel, das ich im „Stahlhof“ betanzt hatte, sich als Mitglied der christlich-fundamentalistischen Zombie-Nazis herausgestellt hatte. Und dass sie wahrscheinlich jetzt dabei war, sich zu überlegen, ob man in meinem Falle nicht pfählen, kreuzigen und verbrennen in einem Arbeitsschritt zusammenfassen könnte.

Die Krönung von allem: Ich war mit meinem Auftrag nicht einen Millimeter weiter. „Außer Spesen nichts gewesen“, wie das alte deutsche Sprichwort so schön sagte.

Maus hatte sich das mit einer stoischen Ruhe angehört. Dann stellte er ein paar ruhige Nachfragen. Ich erzählte ihm die ganze Flirtgeschichte noch einmal – was alles passiert war, nachdem er gegangen war. Ich erzählte ihm nichts von meinen Träumen und Hoffnungen, aber ich erzählte ihm, was vorgefallen war (so wenig das auch war).

Die Kneipe leerte sich langsam. Maus und ich gingen hinaus, liefen noch einige Schritte gemeinsam durch die kalte Nacht. Die ersten hundert Schritte sagte er nichts. Ich beobachtete, wie mein Atem zu einer weißen Wolke wurde, die immer wieder auf dem Kragen meines Mantels herniederschlug. Die zweiten hundert Schritte sagte er auch nichts. Ich schaute zu, wie die vereisten Flächen die Dächer und Giebel spiegelten. Die dritten hundert Schritte sagte er auch nichts, aber er räusperte sich.

Abrupt blieb er stehen und wandte sich mir zu. „Heinrich, altes Haus. Du nennst dich selbst »Mirakel-, Mythen- und Medienberatung«. Du glaubst, dass du ein großer Magier bist oder einer sein könnte. Du erklärst mir immer, dass Magie nichts anderes ist als das ausnützen von Möglichkeiten.“

Er schaute fragend zu mir herüber. Ich konnte nicht mehr tun, als bejahend meine Augenlider nach unten und wieder nach oben zu heben. Eine mit den Augen durchgeführte Art des zustimmenden Nickens, wenn man das so nennen darf.

„Aber,“ sprach Maus weiter, „du markierst hier den trübseligen Weltuntergangsverkünder, das fleischgewordene Scheitern.“

Er machte einen Moment lang eine künstlerische Pause. Ich war ganz überrascht, weil so lange Monologe kannte ich von ihm nicht. Er streckte die rechte Hand hoch und zeigte mir drei gestreckte Finger der rechten Hand. Mit der linken griff er nach dem kleinen Finger und knickte ihn um. „Erstens: Bei dem Fall hast du noch nicht alle Möglichkeiten überprüft.“ Nun war der Ringfinger dran. „Zweitens: Selbst wenn du diesen Fall nicht löst, kann immer noch morgen früh ein neuer Fall auf deiner Fußmatte lauern.“ Was ich jetzt sah, gefiel mir nicht. Maus streckte mir brav den Stinkefinger entgegen. Nach einer quälend langen Pause knickte er den Mittelfinger um. „Drittens: Du hast immer noch ihre Telefonnummer.“

Ich muss wohl geschaut haben wie ein Telefonhäuschen. Eine Uhr schlug – vier Mal für die volle Stunden, zwei Mal für die Uhrzeit. „Es ist Zeit für mich, zu gehen.“ Er umärmelte mich noch kurz, dann verschwand er in die Nacht.

Ich schaute ihm noch einige Meter nach, dann wandte ich mich auch um und marschierte gen Heimat. Während ich ging, hörte ich glockenhell ihre Stimme immer und immer wieder in meinem Ohr: „Ruf mich Montag Abend mal an.“

Ich hatte nicht angerufen.

 

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