Homo Magi - Teambeitrag

Das große Buch der Hexen
Die Geschichte eines Mythos vom Paradies bis heute

verfaßt von Claire Singer
Tosa-Verlag, Wien, 2000
ISBN 3-85492-065-2

Geht man durch die Buchabteilung eines großen Kaufhauses oder stöbert man in den Sonderangebotsecken der Buchclubs und Online-Buchhandlungen, kann man es kaum übersehen: Der Hexenboom hat den Massenmarkt erreicht!

Wer sich allerdings halbwegs ernsthaft mit dem Phänomen der alten und neuen Hexen beschäftigen will, dem kommt ob des Niveaus der auf den Sondertischen angebotenen Bücher der Tee vom Frühstück oder der Kaffee von gestern wieder hoch.

Im oberen Bereich der nach unten offenen Qualitätsskala stehen die leicht verständlichen hexischen Einstiegshilfen von Marian Green und Silver Ravenwolf und ihre weniger bedarfteren PlagiatorInnen - Titel wie “Zauberschule der Neuen Hexen”, “Ritt auf dem Hexenbesen” (mit Original-Mini-Hexenbesen!), “Geldzauber - Magische Tipps für finanziellen Wohlstand” (wie wär’s mit: “Hexenbücher schreiben”?). Im mauen Mittelfeld tummeln sich “Hexe Sandra” und ihre unbedarften PlagiatorInnen, der breite untere Bereich wird von “Thea”, die nicht versteht, was Hexerei und Magie wirklich sind (was sie jedoch nicht davon abhält, Hexenbücher zu schreiben), und ihrer noch unbedarfteren PlagiatorInnen beherrscht. Hinzu kommen zahlreiche (hoffentlich!) nicht ganz ernst gemeinte Teenie-Hexen-Schmöker und ca. 365 verschiedene Hexen-Kalender gleichen Inhalts. Naturreligiöser Stoßseufzer: “Und dafür mussten Bäume sterben!”

Eines dieser Sondertisch-Bücher ist “Das große Buch der Hexen - Die Geschichte eines Mythos vom Paradies bis heute”.

Zum Inhalt: Claire Singer folgt einigen inzwischen klassischen Theorien: Das Hexentum leitet sich vom Schamanismus ab, bis in die Bronzezeit hinein herrschten mehr oder weniger matriarchalische Gesellschaftsformen vor, im Mittelpunkt der Religion stand eine Große Göttin, die magiekundigen Priesterinnen hielten eine wichtige Machtposition inne. Im Laufe der Eisenzeit wurden die “weisen Frauen” immer mehr von den mächtiger werdenden Männern in den Hintergrund gedrückt. Im Christentum verstärkte sich die Unterdrückung des Weiblichen, Frauen, die mehr als Hausfrau und Mutter sein wollten blieb nur ein Außenseiterdasein. Dennoch blieb die Heilkunde noch weitgehend Domäne der Frauen. Die Teufelspakt-Theorie Augustinus, die mit der Theologie Thomas von Aquins seit dem Hochmittelalter offizielle katholische Lehrmeinung wurde, und die zum Kampf gegen “Ketzer” gegründete Inquisition schufen die Grundlagen der Hexenverfolgung. Hinzu kam die zunehmende “Verteufelung” der Sexualität und Katastrophen wie Seuchen und Missernten, für die “Sündenböcke” gesucht wurden.

Breiten Raum nimmt die Darstellung der Hexenverfolgung der frühen Neuzeit ein, wobei die Autorin besonders auf die Hexenprozesse mit ihren absurden und erschreckenden Details eingeht. Sie vergisst auch nicht sonst wenig beachtete Opfer, nämlich die Hexen-Kinder.

Nach der Aufklärung endete die Hexenjagd; in der Romantik entdeckten Kunst und Literatur das Hexenthema. Claire Singer geht kurz auf den Satanismus und Okkultismus ein, handelt ebenso kurz die beginnende Frauenemanzipation und den Einfluss der Psychoanalytiker S. Freud und C. G. Jung ab, um dann deutlich ausführlicher die Neuen Hexen zu behandeln. Dabei steht Wicca im Mittelpunkt, der Leser erfährt nur an Rande, dass es auch andere Neue Hexen gibt. Dem heiklen Thema des ideologischen Missbrauchs der Naturreligion im Nationalsozialismus geht die Autorin erfreulicherweise nicht aus dem Wege. Zwei kurze Kapitel über die Feste der Hexen und über die Tiere der Hexen schließen das Buch ab.

Zielgruppe dürften Leser ohne besondere Vorkenntnisse sein, vor allem Jugendliche. Das Layout erinnert an populärwissenschaftliche Zeitschriften wie PM, die Sprache ist recht einfach gehalten. Auf den ersten Blick machen die zahlreichen Illustrationen einen guten Eindruck - aber schon der zweite Blick zeigt, dass nicht alle Abbildungen den Text sinnvoll und informativ unterstützen. Die viele Hexen-Stahlstiche und Holzschnitte aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert sind fast durchweg reine Dekoration.

Der Titel “Das große Buch der Hexen” ist schlecht gewählt, denn das “große Buch” hat gerade mal 128 nicht allzu dicht bedruckte DIN A4-Seiten und das im Untertitel erwähnte “Paradies” kommt im Buch nirgends vor. Ein Titel wie: “Kleine Geschichte der Hexen von der Eiszeit bis heute” wäre treffender gewesen.

Inhaltlich ist das Buch eher konventionell. Die Sichtweise ist gemäßigt feministisch, Sensationstheorien und Esoterik-Geschwafel glänzen glücklicherweise durch Abwesenheit. Die Darstellungen sind im Großen und Ganzen solide fundiert. Zu bemängeln wäre allenfalls, dass die Autorin nicht erwähnt, dass einige der von ihr angesprochenen Theorien zur Frühgeschichte keineswegs gesichert sind, ja sogar bei nicht wenigen Althistorikern als “feministische Mythen” gelten. Es würde zumindest Schülern, die das Buch für Referate benutzen, mögliche Enttäuschungen ersparen.

Claire Singers Schreibstil ist leider oft unsicher. Manchmal wirkt der Text so, als wäre er nicht lektoriert worden, anders sind die vielen stilistischen Mängel und inhaltlichen Flüchtigkeitsfehler kaum zu erklären.

Hin und wieder greift die Autorin auf Kosten der historischen Genauigkeit tief in die Klischeekiste. Ein ärgerliches Beispiel: “Die Männer hingegen, die sich mit Astrologie beschäftigten, waren gerne gesehene Gäste an den königlichen Höfen. Diejenigen, die studiert hatten, duften sehr wohl und unbehelligt ihre Heilkünste ausführen und die Alchimisten wurden von allen einflussreichen Menschen um Rat gefragt, da sie im Rufe standen, Gold machen zu können.” (S. 74.) und “Hätten Frauen all die Tätigkeiten ausgeführt, die einige Männer des Mittelalters und Barockzeitalters zu Berühmtheiten und Wegbereitern der Wissenschaft machten, dann wären sie vermutlich verbrannt worden. Sollten Männer doch einmal angeklagt werden, entgingen sie zumeist durch Widerruf der Todesstrafe.” (S. 75)

Die Realität sah doch etwas anders aus. Der Hexereiverdacht war zwar geschlechtsbezogen aber nicht geschlechtspezifisch. Es stimmt, dass der Hexenverfolgung ganz überwiegend Frauen zum Opfer fielen, die Hexen-Hysterie nicht ohne die Frauen- und Sexualfeindlichkeit der christlichen Kirchen zu erklären ist und dass die frühneuzeitliche Gesellschaft extrem frauenfeindlich war. Aber fast ein Viertel der wegen Hexerei Hingerichteten waren Männer! Das Schicksal des 1600 wegen Gottesleugnung, Häresie und Zauberei öffentlich lebendig verbrannten Gelehrten Giodarno Bruno zeigt, dass der Widerruf Männern nicht immer half. Der bekannteste “Widerufer”, Galileo Galilei, war wegen Verbreitung einer Irrlehre angeklagt, nicht als Ketzer oder Hexe, der Feuertod drohte ihm auf keinen Fall. Andere Gelehrte, wie Albertus Magnus, Agrippa von Nettersheim oder Johannis Keppler standen dagegen wirklich unter Hexereiverdacht, selbst der als “Hexenfeind” bekannte Paracelsus war teufelspaktverdächtig. Alchimist war im 16. Jahrhundert ein ausgesprochener Risikoberuf, und Astrologen waren nur so lange angesehen wie sie das Wohlwollen Obrigkeit genossen.

Auch ihre Opferzahlen sind fragwürdig: “Man nimmt an, dass die Zahl zwischen 500 000 und fünf Millionen liegt, in der Mitte liegt wahrscheinlich die grausige Wahrheit.” (S. 79) Der neueren Hexenforschung zufolge liegt die Mindestzahl der wegen Hexerei Hingerichteten wohl unter 50.000, eine Obergrenze lässt sich wegen der hohen Dunkelziffer und der “Selbstjustiz” kaum angeben, aber in die Millionen gingen die Opfer mit Sicherheit nicht.

Kleine Fehler, wie das die Blocksbergszene nicht im Faust II, sondern im ersten Teil des goetheschen Dramas steht, oder das die “Titanic” nicht 1910 sondern 1912 unterging, sind an sich nicht gravierend, wecken in ihrer Häufung doch Zweifel an der Sorgfalt der Autorin und des Lektorats. Stilblüten und ungeschickte Formulierungen sind nicht selten. Eine besondere Perle findet sich auf Seite 11: “Die am besten an ihre Umwelt Angepassten vermehrten sich. Vielleicht waren dies die Sprachbegabtesten oder die Vorsichtigsten, vielleicht waren es auch die, die am wenigsten behaart waren, da sie bei der Jagd nicht mit Tieren verwechselt werden konnten.” Da hat die gute Claire wohl einen alten Biologen-Witz wörtlich genommen!

Alles in allem überwiegt leider der Eindruck des schnell und schlampig zusammengehauenen Kaufhausbuchs. Das ist schade, denn an sich ist “Das große Buch der Hexen” eine brauchbare und überwiegend seriöse Informationsquelle. In der Preisklasse der illustrierten Hexenbücher unter acht Euro dürfte es eines der Lesenswertesten sein.

Positiv ist außerdem zu vermerken, dass die Autorin klar Stellung gegen den Missbrauch der Hexentradition durch die Nazis bezieht, Hexerei und Satanismus deutlich voneinander abgrenzt und auch das Problem der Hexerei-Vermarktung anspricht. Leider keine Selbstverständlichkeiten in der populären Hexenliteratur!

Martin Marheinecke, Januar 2003

 

 

 

       

 

 

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